Warum ist Topsharing in der Medizin noch immer eine Seltenheit? Und wie kann dem Modell zum Durchbruch verholfen werden? Dies waren die zentralen Fragen der Podiumsdiskussion „Geteilte Führung in der Medizin – ein Zukunftsmodell?“ vom 8. November an der Universität Bern. Miriam Ganzfried und Claudia Willen diskutierten mit den Medizinprofessorinnen Klara Landau und Dagmar Keller und dem Chefärztinnen-Duo Kristina Keitel und Isabelle Steiner. Miriam fasst in diesem Gastbeitrag die wichtigsten Erkenntnisse des Abends zusammen.
Isabelle und Kristina, die beiden Co-Leiterinnen des Notfallzentrums für Kinder und Jugendliche am Inselspital Bern, sind in zweierlei Hinsicht eine Ausnahme: erstens als Frauen in einer medizinischen Kaderposition und zweitens als Topsharing-Tandem auf Stufe Klinikleitung. Obwohl Frauen seit vielen Jahren die Mehrheit der Studierenden in der Medizin bilden, sind beispielsweise am Universitätsspital Zürich (USZ) immer noch 86% der Chefärzt*innenposten von Männern besetzt. Dass dieser Posten dann zusätzlich nicht nur von einer, sondern gleich von zwei Frauen im Tandem ausgefüllt wird, ist in der Deutschschweiz (noch) eine Rarität.
Obwohl Frauen seit vielen Jahren die Mehrheit der Studierenden in der Medizin bilden, sind beispielsweise am Universitätsspital Zürich (USZ) immer noch 86% der Chefärzt*innenposten von Männern besetzt.
Weshalb ist Topsharing in der Medizin immer noch eine Seltenheit? Für Klara, emeritierte Professorin für Augenheilkunde und Delegierte für ärztliche Weiterbildung und Gleichstellung am USZ, hat das unter anderem mit der hierarchischen Organisationskultur an den Universitätsspitälern zu tun: „In der Medizin geht es häufig um Macht, Geld und Status - das ist hinderlich. Wer es nach diesem harten Weg nach oben geschafft hat, denkt oft: so, jetzt befehle ich!" Ein anderer Grund liegt gemäss Kristina bei fehlenden Anreizen für ein Umdenken. So hindert das kurzfristige Effizienzdenken Universitätsspitäler daran, innovative Führungsmodelle umzusetzen. Zudem sind Teilzeitarbeit und Führung weder im Medizinstudium noch in der ärztlichen Weiterbildung ein Thema. Teilzeitarbeit gilt in der Medizin noch immer als Karrierekiller, wie Isabelle zu bedenken gibt: „Als ich vom Mutterschaftsurlaub zurückgekommen bin und es darum ging, die Stellenprozente allenfalls zu reduzieren, hiess es; "du bist dir aber schon bewusst, dass du weg vom Fenster bist, sobald du reduzierst?!“ Die Gründe für die fehlende Umsetzung von Topsharing in der Medizin finden sich jedoch nicht nur auf der Ebene des Systems, sondern auch auf der Ebene des Individuums. So gibt Kristina selbstkritisch zu bedenken, dass das Problem auch mit dem Berufsverständnis von Ärztinnen und Ärzten zu tun haben könnte: „Möglicherweise liegt es auch daran, dass wir uns nicht so gerne in die Karten schauen lassen." So seien Mediziner*innen oft überzeugt, alles gleichzeitig zu können: Klinik, Forschung, Lehre und Führung.
„In der Medizin geht es häufig um Macht, Geld und Status - das ist hinderlich. Wer es nach diesem harten Weg nach oben geschafft hat, denkt oft: so, jetzt befehle ich!“
„Was müsste denn passieren, damit Topsharing an Universitätsspitälern vermehrt umgesetzt werden würde?“, fragte ich meine Diskussionspartnerinnen. „Die Verbindung der Medizin mit Macht, Geld und Status muss aufgebrochen werden“, sagt Dagmar, Direktorin des Instituts für Notfallmedizin am USZ, und fügt pragmatisch hinzu: „Ich komme mit dem Velo arbeiten und habe kein schönes Auto.“ Aber es braucht auch gute Beispiele an der Spitze: „Warum eine CEO Position oder eine ärztliche Direktion nicht einmal in einem Topsharing besetzen?“ fragt Dagmar in die Runde. Es müsste von der Spitaldirektion ein klares Commitment zu Topsharing geben. Dadurch spürten die Mitarbeitenden, dass solche Führungsmodelle wertgeschätzt werden, findet Isabelle. Klara beurteilt den mangelnden Einbezug der HR-Abteilung bei der Rekrutierung von Ärztinnen und Ärzten kritisch. Sie ist überzeugt davon, dass HR Fachkräfte dazu beitragen könnten, innovative Führungsmodelle zu ermöglichen. Diese sähen, dass „solche Modelle gut wären und könnten das auch vorantreiben, wenn man sie lässt.“ Eine weitere Möglichkeit zur Förderung von Topsharing in der Medizin sieht Kristina darin, die Aufgaben von Anfang an aufzuteilen, so dass ein Chefarzt oder eine Chefärztin nicht die gesamte Palette – Klinik, Forschung und Lehre - alleine übernehmen muss. Dem Vorschlag aus dem Publikum, Forschung und Klinik klarer zu trennen, steht Klara hingegen kritisch gegenüber. Sinnvoller fände sie es, den Berufungsprozess von Professorinnen und Professoren zu verbessern und deren akademische Leistung anders zu bewerten. Als Kriterien sollten nicht nur die Anzahl Publikationen oder eingeworbene Drittmittel gelten, sondern auch die Führungskompetenzen, meint Kristina: „In anderen Ländern wie den USA ist das selbstverständlich.“ Für die Chefärztin ist klar, „gute Forscher*innen sind keine Autist*innen, gute Forscher*innen sind solche, die Führen und Leute weiterentwickeln können.“ Auf die Frage aus dem Publikum, was denn bezüglich Aneignung von Führungsknowhow gemacht werden sollte, war sich das junge Tandem einig: Es braucht eine institutionalisierte Führungsausbildung sowie Unterstützungsangebote in Form von Coachings oder Mentoringprogrammen. "Bei der Übernahme der Leitung des Notfallzentrums für Kinder und Jugendliche im Topsharing mussten wir uns selber helfen und organisieren“, berichtet Isabelle. Ein institutionalisiertes Angebot, das die beiden bei diesem Übergang unterstützt hätte, wäre hilfreich gewesen.
Es müsste von der Spitaldirektion ein klares Commitment zu Topsharing geben. Dadurch spürten die Mitarbeitenden, dass solche Führungsmodelle wertgeschätzt werden.
Die Diskussion an diesem Abend machte deutlich, dass die Herausforderungen für die Umsetzung von innovativen Führungsmodellen in der Medizin besonders gross sind. Es bedarf noch einiger Überzeugungsarbeit, damit Topsharing die nötige Anerkennung erhält und sich im Gesundheitswesen durchsetzen kann. Auch wenn wir an dieser Podiumsdiskussion keine Berge versetzen konnten, so ist es uns doch gelungen, dem Thema Sichtbarkeit zu geben und einen Beitrag dazu zu leisten, nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie zu reden. Vorbilder wie Kristina und Isabelle, die sich Führung teilen, sind wichtig. Eine steigende Anzahl junger Ärztinnen und Ärzte möchte Teilzeit arbeiten – Topsharing kann eine Antwort darauf sein.
Auch wenn wir an dieser Podiumsdiskussion keine Berge versetzen konnten, so ist es uns doch gelungen, dem Thema Sichtbarkeit zu geben und einen Beitrag zu leisten, nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie zu reden.
Die Aufzeichnung der Podiumsdiskussion ist ab sofort frei verfügbar. Wie Isabelle und Kristina die Arbeit im Topsharing konkret erleben, ist Teil des #seeingisbelieving Beitrags, welcher Mitte Dezember auf dem Blog von WEshare1 erscheint.
Zur Autorin:
Miriam Ganzfried arbeitet am Kompetenzzentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung CHESS der Universität Zürich und leitet das Kooperationsprojekt „Mehr Diversität beim medizinischen Führungskräftenachwuchs“ – Divmed der Universitäten Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich. Davor war sie an der Universität Bern in den Bereichen Qualitätssicherung und Nachwuchsförderung tätig. Neben ihrer Dissertation arbeitet sie in der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit als Programmbeauftragte für interne Lernprozesse. Miriam Ganzfried studierte Politikwissenschaft und Gender Studies an der Universität Genf und promovierte an der Universität Zürich. Sie ist Mutter von 2 Kindern (13 und 9 Jahre alt) und wohnt mit ihrer Familie in Bern. Ihre Freizeit verbringt Sie gerne mit Familie und Freund*innen, beim Jogging, Tanzen oder mit Yoga.
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